Gewalt an Kindern

«Die Wieder­gutmachungs­initiative gibt ein Stück Gerechtig­keit und Würde zurück – den Überlebenden, aber letztlich auch denjenigen Verding­kindern und Opfern von fürsorgerischen Zwangs­massnahmen, die nicht mehr unter uns sind.»

Guido Fluri, Urheber der Wieder­gutmachungs­initiative

Medienmitteilungen

Medienbeiträge

Rohner, Markus (2006): Im Namen des Anstands sterilisiert (NZZ vom 1. Oktober 2006).

Strebel, Dominique (2008): „Was die mit uns gemacht haben!“ (Beobachter 20/2008).

Strebel, Dominique (2011): Schweiz verweigert Wiedergutmachung (Beobachter 3/2011).

Hostettler, Otto; Strebel, Dominique (2011): Man nahm ihnen sogar das Sparbüchlein (Beobachter 21/2011).

Hostettler, Otto; Strebel, Dominique (2011): Verdingkind Rolf Horst Seiler lebte 40 Jahre draussen im Wald (Beobachter vom 12. Oktober 2011).

Hostettler, Otto (2012): Düstere Jahre (Beobachter 10/2012).

Hostettler, Otto; Föhn, Markus (2012): Gebt mir mein Kind zurück (Beobachter 25/2012).

Grossried, Beat (2012): „Das war haarsträubend“ (Beobachter 10/2012).

Überforderte Ingenbohler Schwestern quälten Zöglinge (Leserkommentar in der Südostschweiz vom 23. Januar 2013)

Schwierige Vergangenheitsbewältigung (Bayern 2 vom 10. Dezember 2013).

Biographie von Willy Mischler: Falsche Gnade für Nonnen (Beobachter vom 8. Februar 2013).

Hostettler, Otto (2014): Die Menschenversuche von Münsterlingen (Beobachter 3/2014).

Murith, Vincent (2014): Sur les traces d’un passé douloureux (La Liberté vom 27. Januar 2014).

Ehemalige Verdingkinder als Zeitzeugen einer bitteren Kindheit (Verein netzwerk-verdingt).

Videos

Wieder­gutmachungs­initiative

Eine Stern­stunde der Schweizer Politik

Anfang der 1970er Jahre war Guido Fluri selbst im Kinder­heim Mümliswil im Kanton Solothurn untergebracht. Sein persönliches Schicksal bewegte ihn dazu, sich mit der Guido Fluri Stiftung für die Opfer fürsorger­ischer Zwangs­­massnahmen einzusetzen. So wurde im Jahr 2010 das Projekt Kinderheime Schweiz lanciert, welches die Ge­schich­te der Fremd­­platzierung in der Schweiz aufarbeiten sollte. Projekt­leiter war der promovierte Historiker Thomas Huonker, der mit seiner Recherche wichtige Pionier- und Aufklärungs­­arbeit leistete.

Logo Wiedergutmachungsiniative

Dank der Wieder­gutmachungs­initiative wurde das dunkle Kapitel der fürsorge­rischen Zwangs­massnahmen, das über Jahr­zehnte hinweg tabuisiert worden war, umfassend wissen­schaftlich aufgearbeitet und damit endlich Teil der Schweizer Geschichts­­schrei­bung. Zudem haben zahlreiche Verding­kinder und andere Missbrauchsopfer einen Solidaritäts­beitrag zugesprochen bekommen. Über 10'000 Betroffene haben ein Gesuch gestellt und erfahren damit noch zu Lebzeiten eine offizielle Anerkennung für das erlittene Unrecht. Sie stehen stellvertretend für all die Hundert­­tausenden Opfer von Zwangs­mass­nahmen, die diesen historischen Moment nicht mehr erleben durf­ten. Joachim Eder, FDP-Alt-Ständerat und Mitglied des Initiativ­komitees, be­zeichnete die Wieder­gut­machungs­­initiative daher zurecht als «Sternstunde der Schweizer Politik».

Am 19. Dezember 2014 reichten rund 200 ehemalige Verdingkinder und Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen die Wiedergutmachungsinitiative ein.
Am 19. Dezember 2014 reichten rund 200 ehemalige Verdingkinder und Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen die Wiedergutmachungsinitiative ein.

Die Wieder­gutmachungs­initiative führte aber auch zu einer gesellschaft­lichen Aufarbeitung. Das Thema wird heute im Schul­unterricht behandelt und an Universitäten werden Arbeiten und Dissertationen darüber geschrieben. Auch zahlreiche Bücher und Filme («Der Verdingbub») sind erschienen. Vor allem aber begannen Betroffene, endlich ihre Geschichten zu erzählen. Mit dem Ziel, dass all dies nie mehr passiert.

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Die Initiant­innen und Initianten danken allen, welche die Wieder­gutmachungs­initiative unterstützt und den Gegen­vorschlag möglich gemacht haben. Dem Unterstützungs­komitee traten nach und nach Politiker­innen und Politiker aus allen Parteien bei. Die Volks­initiative wurde von namhaften Exponenten der Wissenschaft, von ranghohen Amtsträgern beider Landes­kirchen, aber auch von Bauern­vertretern sowie bedeutenden Schweizer Kultur­schaffenden unterstützt.

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Wenn Sie Fragen zum Solidaritäts­beitrag haben, wenden Sie sich bitte an den Fachbereich FSZM des Bundesamtes für Justiz

Tel. 058 462 42 84 (Telefonzeiten: Montag bis Freitag 09.00-12.00 Uhr)
sekretariat@fuersorgerischezwangsmassnahmen.ch
www.fszm.ch

Hintergrund

Es ist ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte, welches über Jahr­zehnte hinweg tabuisiert worden war: Die Praxis der so genannten für­sorgerischen Zwangs­massnahmen und Fremd­platzierungen. Bis in die 1980er-Jahre hat sie enormes Leid über die Betroffenen gebracht. Zu den Opfern zählten vor allem Menschen, die den früheren gesellschaft­lichen und moralischen Wert­vorstellungen nicht entsprachen, arm oder randständig waren. Dazu gehörten die folgenden Gruppen. Gemeinsam ist ihnen allen das grosse Unrecht, das sie erlitten haben. Darum brauchte es die Wieder­gutmachungs­initiative. Für die Opfer. Für die Schweiz.

In der Schweiz wurden bis weit ins 20. Jahrhundert Kinder auf Dorf­plätzen versteigert und verdingt. Jährlich wurden Zehn­tausende Kinder vorwiegend aus verarmten Familien oder aus Waisen­häusern von den Behörden abgeholt und auf Bauern­höfe verteilt. Dort wurden viele zur Kinder­arbeit gezwungen, als Dienst­magd oder Verding­bub ausgebeutet, teilweise schwer misshandelt oder sexuell missbraucht. Viele Kinder starben aufgrund der körperlichen Anstrengungen und Missbräuche. Die meisten Verding­kinder haben schwere Beein­trächtigungen davongetragen. Sie leiden bis heute unter den Ent­würdigungen, Peinigungen und den schweren Miss­handlungen, die sie in ihren Jugend­jahren erleben mussten.

Hostettler, Otto; Strebel, Dominique (2011): Man nahm ihnen sogar das Spar­büchlein (Beobachter 21/2011).

Verdingkinder

In staat­lichen, kirchlichen und privaten Heimen wurden Tausende Kinder systematisch gedemütigt, gezüchtigt, körperlich misshandelt und teilweise auch sexuell missbraucht. Auf Kosten der Schul­bildung wurden viele Heim­kinder zur Kinder­arbeit gezwungen und ausgebeutet. Weil es an konsequenten staatlichen Kontrollen fehlte, waren die Kinder in diesen geschlossenen Institutionen ihrem Schicksal schutzlos ausgeliefert. Die Missbrauchs­fälle wurden in den meisten Fällen nicht geahndet. Viele ehemalige Heim­kinder berichten von traumatischen Erlebnissen, von Gewalt und Folter.

Hostettler, Otto (2010): Düstere Jahre (Beobachter 10/2012).

Heimkinder

Bis anfangs der 1980er-Jahre wurden Jugendliche und junge Erwachsene ohne Schuld­spruch und Gerichts­urteil administrativ versorgt. Die jungen Männer und Frauen wurden zur „Arbeits­erziehung“ in geschlossene Anstalten und Gefängnisse eingewiesen, weil sie ein angeblich „liederliches Leben“ führten oder als „arbeitsscheu“ eingestuft wurden. Auch Frauen, denen man beispielsweise einen „lasterhaften Lebenswandel“ unterstellte, wurden weggesperrt, etwa im Frauen­gefängnis Hindelbank. Weil die administrativ­rechtlichen Versorgungen der Ratifizierung der Europäischen Menschen­rechts­konvention EMRK entgegenstanden, wurde die Praxis 1981 geändert. Das Unrecht wurde inzwischen öffentlich anerkannt. Das Parlament hat die administrativ Versorgten im Jahr 2014 „rehabilitiert“. Eine finanzielle Wieder­gutmachung für das erlittene Leid ist jedoch nicht Teil des Rehabilitierungs­gesetzes.

Strebel, Dominique (2008): „Was die mit uns gemacht haben!“ (Beobachter 20/2008).

Opfer von administrativrechtlichen Versorgungen

In der Schweiz wurden bis in die 1980er-Jahre Zwangssterilisationen, Zwangskastrationen und Zwangsabtreibungen durchgeführt. Das „Einverständnis“ der Betroffenen verschafften sich Behörden und Ärzte oftmals durch Zwang oder Ausübung massiven Drucks. Fürsorgeempfängerinnen wurde etwa mit dem Entzug der Unterstützungsgelder gedroht. Abtreibungen wurde oftmals nur bewilligt, wenn die Frauen gleichzeitig in eine Sterilisation einwilligten. Auch mit der Einweisung in eine Anstalt wurde gedroht.

Das Parlament lehnte einen Vorstoss für eine Wiedergutmachungszahlung im Jahr 2004 ab. Fünf Jahre später, im November 2009, tadelte der Menschenrechtsausschuss der UNO in seinem dritten Menschenrechtsbericht die Schweiz, weil sie nichts getan habe, um die bis „1987 durchgeführten Zwangskastrationen zu entschädigen und anderweitig wiedergutzumachen“. Der Ausschuss empfahl der Schweiz, das „begangene Unrecht durch Formen der Genugtuung, einschliesslich einer öffentlichen Entschuldigung, wiedergutzumachen“. Dies ist bis heute nicht geschehen.

Strebel, Dominique (2011): Schweiz verweigert Wiedergutmachung (Beobachter 3/2011).

Opfer von Zwangssterilisationen

Unzählige Neu­geborene wurden bis in die 1970er-Jahre durch Vormundschafts­behörden von ihren un­verheirateten Müttern getrennt. Weil die Frauen aus ärmlichen Verhältnissen stammten, angeblich ein „liederliches Leben“ führten oder aber weil ihre Männer Alkoholiker waren oder als „arbeitsscheu“ galten. Die Mütter wurden oft so stark unter Druck gesetzt, dass sie ihre Neu­geborenen zur Adoption „freigaben“. In diesen Fällen spricht man von Zwangs­adoption. Aufgrund des geltenden Adoptions­rechts ist es den Opfern dieser erzwungenen Adoptionen praktisch unmöglich, ihre Kinder wiederzufinden. Von den Behörden erhalten die Mütter keine Unter­stützung bei der Suche nach ihren Kindern.

Hostettler, Otto; Föhn, Markus (2012): Gebt mir mein Kind zurück (Beobachter 25/2012).

Opfer von Zwangsadoptionen

Die Verantwort­lichen des „Hilfswerks für die Kinder der Land­strasse“ entrissen zwischen 1926 und 1973 rund 600 Kinder ihren Familien. Dabei handelt es sich um Kinder von Fahrenden, insbesondere von Jenischen. Das Ziel des „Hilfswerks“, das innerhalb der Stiftung Pro Juventute gegründet wurde, war letztlich die Zer­störung der Lebens­form der Fahrenden. Die Kinder dieser Bevölkerungs­gruppe sollten zu „sesshaften“ und „brauchbaren“ Menschen erzogen werden. Aufgrund dieser für­sorgerischen Zwangs­massnahmen kam enormes Leid über Hunderte von Menschen. Die entrissenen Kinder wurden meist in Heimen und Anstalten fremdplatziert, wo sie oft schwere Demütigungen und Misshandlungen erlebten. Die Wiedergutmachungs­initiative schliesst diejenigen Opfer für­sorgerischer Zwangs­massnahmen mit ein, die Ende der 1980er und anfangs der 1990er Jahre keine angemessene Wieder­gutmachung der Stiftung zur Wieder­gutmachung für die „Kinder der Landstrasse“ erhalten haben.

Grossried, Beat (2012): „Das war haarsträubend“ (Beobachter 10/2012).

Fahrende

An Hunderten von ahnungslosen Patienten wurden in Schweizer Psychiatrie­kliniken Medikamente getestet. Die medizin­historische Aufarbeitung dieser Miss­bräuche steht erst am Anfang. Das Ausmass, das sich abzeichnet, ist erschreckend: Bis Ende der 1970er-Jahre wurden, mitunter für die Pharma­industrie, Medikamente an Patienten getestet – selbst an Schwangeren und Kindern. Die Tests fanden unter ethisch höchst fragwürdigen und wissenschaft­lich zweifelhaften Bedingungen statt. In den Akten finden sich keine Belege, dass die Versuchs­personen über die Medikamenten­tests informiert worden wären. Viele Opfer dieser aktenkundigen Medikamenten­versuche leiden noch heute unter den Folgen dieser massiven Eingriffe in ihre körperliche Integrität.

Hostettler, Otto (2014): Die Menschen­versuche von Münster­lingen (Beobachter 3/2014).

Opfer von Medikamentenversuchen
Fotograf: Paul Senn (1901 – 1953), Bernische Stiftung für Fotografie, Film und Video, Kunstmuseum Bern, Depositum Gottfried Keller-Stiftung © Gottfried Keller-Stiftung, Bern
Fotograf: Paul Senn (1901 – 1953), Bernische Stiftung für Fotografie, Film und Video, Kunstmuseum Bern, Depositum Gottfried Keller-Stiftung © Gottfried Keller-Stiftung, Bern

Schicksale

In der Schweiz leben heute noch rund 20‘000 Opfer von für­sorgerischen Zwangs­massnahmen und Fremd­platzierungen. Ihre körperliche, psychische oder sexuelle Integrität wurde schwer verletzt. Sie wurden verdingt, versorgt, zwangs­sterilisiert oder zwangs­adoptiert. Die hier aufgeführten Einzel­schicksale stehen exemplarisch für ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte.

Die 1954 geborene Bernadette Gächter kam als Klein­kind zu einer streng katholischen Pflege­familie nach St. Margrethen. Mit sieben Jahren zweifelten ihre Pflege­eltern an ihrem Charakter und liessen sie von einem Psychiater untersuchen. Dieser attestierte dem Mädchen ein «infantiles hirn­organisches Psychosyndrom» (heute als Aufmerksam­keitsdefizit­syndrom ADS bekannt). Mit 18 Jahren wurde Bernadette Gächter schwanger, was einen Skandal in der Pflege­familie auslöste. In der Folge reagierten Vormund, Pfarrer und Hausarzt. Letzterer kam in einem Gutachten zuhanden der Psychiatrischen Klinik Wil zum Schluss, dass Bernadette Gächter «mit ihrer abnormen Veranlagung» nicht in der Lage sei, ein Kind grosszuziehen und empfahl neben einer Abtreibung die Sterilisation der jungen Frau. Pflege­eltern, Hausarzt und der Klinik­direktor setzten sie so stark unter Druck, dass Bernadette Gächter schliesslich in den Eingriff einwilligte. Später versuchte sie mit zwei Operationen erfolglos, die Sterilisation wieder rückgängig zu machen. Bernadette Gächter blieb zeitlebens kinderlos.

Rohner, Markus (2006): Im Namen des Anstands sterilisiert (NZZ vom 1. Oktober 2006).

Bernadette Gächter

Clément Wieilly wurde 1954 im Kanton Freiburg geboren. Im Alter von drei Jahren wurde er seinen Eltern weg­genommen und im Sanatorium von Pringy untergebracht. Anschliessend wurde er in das bürgerliche Waisenhaus von Freiburg verlegt, wo er die nächsten zehn Jahre fast täglich Opfer schwerster physischer und psychischer Gewalt wurde: Er erfuhr häufig Essens­entzug und erhielt regelmässig Schläge mit dem Teppich­klopfer. Zudem wurde sein Kopf mehrmals solange in kaltes Wasser gedrückt oder mit einem Kissen zugedeckt, bis er bewusstlos wurde. Seit seinem achten Lebensjahr wurde Clément Wieilly während den Ferien an verschiedene Bauern verdingt. All dies führte dazu, dass er nie eine richtige Ausbildung machen konnte. Seine Mutter sah er erstmals wieder, als sie mit 42 Jahren im Sterben lag. Erst als der Kanton Freiburg die Akten Betroffener freigab, konnte er seine Vergangen­heit aufarbeiten. So erfuhr Clément Wieilly, dass seine Mutter die Behörden erfolglos um finanzielle Unterstützung für ihre Kinder anfragte. Ferner hatte er neben seinen Brüdern noch zwei ältere Schwestern, von denen eine früh verstarb. So erfuhr Clément Wieilly anhand der Akten auch, dass seinen Eltern 1957 ohne aktenkundige Begründung das Sorgerecht entzogen wurde. Clément Wieilly lebt heute in Armut und leidet immer noch unter den traumatischen Erlebnissen.

Murith, Vincent (2014): Sur les traces d’un passé douloureux (La Liberté vom 27. Januar 2014).

Clément Wieilly

Hugo Zingg wurde 1936 als Sohn einer Arbeiter­familie im Berner Mattequartier geboren. Nachdem er seine frühen Kindheits­jahre im Kinderheim Kleindietwil im Oberaargau verbracht hatte, wurde er 1942 auf einen Bauernhof im Gürbetal verdingt und zu schwerer Arbeit in Haus und Hof gezwungen. Zusätzlich war er der sadistischen Willkür der Bäuerin ausgeliefert. Die Schule konnte er wegen der vielen Arbeit nur unregelmässig besuchen; die Lehr­personen wurden mit Gaben und Naturalien bestochen. Später wurde Hugo Zingg an einen Lehr­meister ins Seeland vergeben, wo er Spengler werden sollte. Statt­dessen wurde er wieder ausgebeutet. Nach Auflösung des Lehrstellen­verhältnisses durch die Lehrlings­kommission kam Hugo Zingg über das Bächtelen­heim in Wabern nach La Neuville, wo er als Laufbursche eines Milchhändlers erneut ausgebeutet wurde und in seiner freien Zeit in der Gärtnerei von dessen Sohn arbeiten musste. Seine Vergangenheit als bevormundetes Verdingkind blieb bis in die 1970er-Jahre ein berufliches Hindernis für Hugo Zingg. Erst als er begann, seine Vergangenheit als Verdingter bei Bewerbungen zu verheimlichen, ging es für ihn allmählich aufwärts.

Ehemalige Verdingkinder als Zeitzeugen einer bitteren Kindheit (Verein netzwerk-verdingt).

Hugo Zingg

1960 wurde Michel Mischler kurz nach seiner Geburt den überforderten Eltern aus der Stadt Bern weggenommen und ins Kinderheim «Mariahilf» in Laufen gebracht. Dort verbrachte er die nächsten elf Jahre seines Lebens. Mangel an Aufmerksam­keit von Seiten der katholischen Kloster­frauen führte dazu, dass bei Michel eine Unter­entwicklung unbemerkt blieb, welche eigentlich eine spezielle Betreuung notwendig gemacht hätte. Dadurch verpasste Michel Mischler den Anschluss in der Schule. Im Heim wurde er Opfer von schweren körperlichen und seelischen Miss­handlungen. Michel Mischler wurde nächtelang auf dem Estrich eingesperrt, systematisch geschlagen, kopfüber in einen Kübel Wasser gesteckt, sodass er beinahe ertrunken wäre und regelmässig mit den Worten erniedrigt: «du chasch nüd, du besch nüd und us dir wird nüd». Nach seiner Kindheit im Heim gelang es Michel Mischler nie ein eigenständiges Leben zu führen.

Biographie von Willy Mischler: Falsche Gnade für Nonnen (Beobachter vom 8. Februar 2013).

Michel Mischler

Rolf Horst Seiler erlitt 1952 im Alter von neun Jahren eine Hirn­hautentzündung, die seine Motorik und Konzentration zeitlebens einschränkte. Nach der Schulzeit wurde er als «arbeitsscheu» eingestuft und per Verfügung aus seinem Elternhaus verstossen. Weil er die Verfügung missachtete, kam er zwei Jahre lang in die Arbeits­anstalt für Schwer­erziehbare in Dielsdorf. Ohne Recht auf Rückkehr in sein Elternhaus, lebte Rolf Horst Seiler danach jahrzehnte­lang ohne Bleibe und unter lebens­bedrohlichen Bedingungen im Wald, hauste in Erdhöhlen, der Kanalisation und kaufte sich Essen mit Pfandgeld von gesammelten Flaschen. Anstatt seine Invalidität anzuerkennen, verurteilten ihn die Gerichte unzählige Male als «uneinsichtigen Vagabund». Rolf Horst Seiler verbrachte etwa 15 Jahre in Anstalten, Gefängnissen und Zuchthäusern. Jahrelang besass er keinen amtlichen Ausweis. Erst im Jahre 1987 wurde die Meningitis und damit die Arbeits­unfähigkeit bei ihm amtlich diagnostiziert. 1979 wurde eine Frau von ihm schwanger. Als ihre Familie von Rolf Horst Seilers Vergangenheit erfuhr, verstiessen sie ihn erneut. Seine Tochter kam 1980 zur Welt. Er hat sie noch nie gesehen. Die Behörden weigern sich bis heute, ihm bei der Suche nach seiner Tochter zu helfen.

Hostettler, Otto; Strebel, Dominique (2011): Verding­kind Rolf Horst Seiler lebte 40 Jahre draussen im Wald (Beobachter vom 12. Oktober 2011).

Rolf Horst Seiler

Rudolf Züger wurde 1942 geboren. Er verbrachte viele Jahre in mehreren Heimen, wo er Opfer von Gewalt wurde: Im Bürger­heim von Altendorf SZ wurde Rudolf Züger regelmässig in einen Schweinestall gesperrt. Weil er Bettnässer war, wurde Rudolf Züger im St. Josefsheim in Bremg­arten AG wiederholt Kopf voran solange in eine Badewanne mit eiskaltem Wasser gedrückt, bis er keine Luft mehr kriegte. Im Kinderheim St. Iddazell in Fischingen wurde Rudolf Züger immer wieder geschlagen. Noch heute fürchtet sich Rudolf Züger vor kaltem Wasser, hat Albträume, Panik­attacken und Erstickungs­anfälle.

Überforderte Ingenbohler Schwestern quälten Zöglinge (Leserkommentar in der Südostschweiz vom 23. Januar 2013)
Schwierige Vergangenheitsbewältigung (Bayern 2 vom 10. Dezember 2013).

Rudolf Züger

Forderungen der Wieder­gutmachungs­­initiative

Die Betroffenen haben grosses Unrecht erlitten. Um ein Stück Gerechtig­keit wieder­­herzustellen, lancierte die Guido Fluri Stiftung im Jahr 2014 die Wieder­­gutmachungs­­initiative. Das waren ihre Forderungen:

  1. Eine finanzielle Wieder­­gutmachung für Verding­kinder und Opfer für­sorgerischer Zwangs­massnahmen.
  2. Eine wissen­schaftliche Aufarbeitung.
  3. Einen Fonds über 500 Millionen Franken – nur schwer betroffene Opfer erhalten daraus eine Wieder­gutmachung.
  4. Eine unabhängige Kommission prüft jeden Fall einzeln.

Von der Lancierung bis zum erfolgreichen Ab­schluss

Mit rund 110'000 gültigen Unter­schriften kam die Initiative in Rekordzeit zustande. Der Bundesrat arbeitete nur einen Tag später einen indirekten Gegen­vorschlag aus, in dem er die mass­gebenden Forderungen übernommen hatte. Neben der wissenschaft­lichen Aufarbeitung sprach sich der Bundesrat auch für einen Fonds für Schwer­betroffene im Umfang von 300 Millionen Franken aus – was 200 Millionen Franken weniger war, als die von den Initiant­innen und Initianten geforderten 500 Millionen Franken.

Unterschriften Wiedergutmachungsinitiative

Der indirekte Gegen­vorschlag ging in die Vernehm­lassung, wo er vom National- und Ständerat angenommen wurde. In der Schluss­abstimmung wurde er vom Parlament verabschiedet, woraufhin das Initiativ­komitee die Wiedergutmachungs­initiative zurückzog. Nur etwas mehr als zwei Jahre vergingen zwischen dem Start der Wieder­gutmachungs­initiative und der Annahme des Gegen­vorschlags – ebenfalls ein Rekord in der schweizerischen Politik. Mit über 10'000 Gesuchen für einen Solidaritäts­beitrag wurde die Wieder­gutmachungs­initiative erfolgreich abgeschlossen.

Ein emotionaler Moment: Die Annahme des Gegenvorschlags durch das Parlament. Bild: Keystone
Ein emotionaler Moment: Die Annahme des Gegenvorschlags durch das Parlament. Bild: Keystone

Im Folgenden finden Sie eine Übersicht der grössten Meilen­steine der Wieder­gutmachungs­initiative:

Am 31. März 2014 lanciert ein überparteiliches Komitee die Wieder­gutmachungs­initiative für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Diese Initiative soll die gesetzliche Grundlage für eine umfassende wissen­schaftliche Aufarbeitung sowie für eine finanzielle Wieder­gutmachung schaffen. Für die rund 20‘000 schwer betroffenen Opfer will die Initiative einen Fonds von 500 Millionen Franken errichten. Daneben sollen die fürsorgerischen Zwangs­massnahmen wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Die Initiative unter der Leitung der Guido Fluri Stiftung wird von einem Komitee mit Politiker­innen und Politikern der FDP, BDP, CVP, EVP, GLP, Grünen und SP getragen. Auf dem Bundesplatz in Bern drücken gegen 100 Betroffene ihre Unterstützung für die Wieder­gutmachungs­initiative aus.

Medienmitteilung zur Lancierung der Wiedergutmachungsinitiative, 31. März 2014

Der Start der Wieder­gutmachungs­initiative ist erfolgreich. Die Initiative löst ein grosses Medienecho aus und erfährt enorm viel Sympathie. Mit einem Solidaritätsmarsch für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangs­massnahmen wird die Unter­stützung zum Ausdruck gebracht. In mehreren Etappen marschieren Betroffene und Anhänger­innen und Anhänger von Bern bis nach Genf, wo der UNO eine Petition überreicht wird. Innerhalb weniger Monate unterstützen auch verschiedene Akteure aus Politik und Gesellschaft die Wieder­gutmachungs­initiative. Dazu gehören die Gewerkschaft VPOD, die reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn, der Dach­verband Lehrerinnen und Lehrer, die katholische Kirche sowie Vertreter­innen und Vertreter aller Parteien.

Am 19. Dezember 2014 reichen rund 200 ehemalige Verdingkinder und Opfer von fürsorgerischen Zwangs­massnahmen die Wieder­gutmachungs­initiative in Bern ein. Dank der breiten Unterstützung ist die Initiative am 13. Januar 2015 mit 108’709 gültigen Unterschriften zustande gekommen – eine Rekordzeit.

Mitteilung der Bundeskanzlei, Bern, 13. Januar 2015

Am 14. Januar 2015, nur einen Tag nach der Einreichung der Wieder­gutmachungsinitiative, lässt der Bundesrat einen indirekten Gegen­vorschlag ausarbeiten. Darin anerkennt er die zentrale Forderung und spricht sich erstmals auch für finanzielle Leistungen zugunsten ehemaliger Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangs­massnahmen vor 1981 aus. Er will einen Fonds im Umfang von 300 Millionen Franken einrichten.

Am 24. Juni 2015 eröffnet der Bundesrat die Vernehm­lassung zum Bundesgesetz über die Aufarbeitung der für­sorgerischen Zwangs­massnahmen und Fremd­platzierungen vor 1981. Dabei anerkennt der Bundesrat, dass den Opfern schweres Unrecht zugefügt worden ist. Er will darum unter anderem einen Fonds im Umfang von 300 Millionen Franken einrichten. Dieser Solidaritäts­fonds nimmt eine zentrale Forderung der Wieder­gutmachungs­initiative auf. Die Vernehm­lassung und die parlamentarischen Beratungen müssen diese anvisierte Lösung nun bestätigen und zeigen, dass der Wille zu einer umfassenden Aufarbeitung tatsächlich gegeben ist.

Gesetzesentwurf des Bundesrates, 24. Juni 2015

Erläuternder Bericht des Bundesrates, 24. Juni 2015

Medienmitteilung des Bundesrates, 24. Juni 2015

Eine Mehrheit der Parteien und Verbände begrüssen den indirekten Gegenvorschlag des Bundesrates:

Die Initiant­innen und Initianten nehmen Stellung zum indirekten Gegen­vorschlag des Bundesrates. Dieser nehme in vielen Bereichen die Forderungen der Wiedergutmachungsinitiative auf – so etwa im Bereich der wissenschaft­lichen Aufarbeitung, aber auch in der grundsätzlichen Anerkennung finanzieller Leistungen für die Schwerbetroffenen. Auch das Tempo, mit welchem der Bundesrat die Aufarbeitung der für­sorgerischen Zwangs­massnahmen und Fremd­platzierungen vorantreibe, wird begrüsst. Der vorgesehene Zahlungsrahmen für die Solidaritätsbeiträge sei mit 300 Millionen Franken jedoch zu knapp bemessen (die Wiedergutmachungsinitiative fordert 500 Millionen Franken für die schätzungsweise 20‘000 Opfer).

Stellungnahme des Initiativkomitees, 11. September 2015

In einer Botschaft zur Wiedergutmachungsinitiative und zum Gegenvorschlag vom 4. Dezember 2015 fordern die Initiantinnen und Initianten das Parlament dazu auf, anhand des Gegenvorschlags eine rasche und gerechte Lösung zu ermöglichen. Diese müsse auch substantielle Leistungen für die Tausenden von Opfern beinhalten. Ansonsten stünde ein Rückzug der Initiative nicht zur Diskussion.

Botschaft des Initiativkomitees, 4. Dezember 2015

Am 26. Februar 2016 spricht sich eine Mehrheit der Rechts­kommission des Nationalrates für eine umfassende Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangs­massnahmen und Fremd­platzierungen aus.

Am 27. April 2016 stimmt der Nationalrat dem Gegen­vorschlag des Bundesrates zu, welcher die massgebenden Forderungen der Wieder­gutmachungs­initiative beinhaltet. Damit spricht sich der Nationalrat für eine umfassende Aufarbeitung sowie Solidaritätsbeiträge zugunsten der schwer­betroffenen Opfer vor 1981 aus. In einem historischen Entscheid am 15. September 2016 stimmt auch der Ständerat dem Gegen­vorschlag des Bundesrats zu.

Protokoll des Nationalrats, Bern, 27. April 2016

Protokoll des Ständerats, 15. September 2016

In der Schluss­abstimmung vom 30. September 2016 stimmt das Schweizer Parlament dem Gegen­vorschlag des Bundesrates zur Wieder­gutmachungs­initiative zu. Da der vorgesehenen Gegenvorschlag die massgebenden Forderungen beinhaltet und den betagten Opfern so schneller geholfen werden kann, zieht das Initiativkomitee die Wieder­gutmachungs­initiative zurück.

Parlamentsseite zur Wiedergutmachungsinitiative

Auf diesen Moment haben die Opfer von für­sorgerischen Zwangs­massnahmen lange gewartet – ab Dezember 2016 können die Anträge für einen Solidaritäts­beitrag eingereicht werden. Um eine Solidaritäts­zahlung in Anspruch zu nehmen, können Betroffene bis zum 31. März 2018 ein entsprechendes Gesuch beim Bundesamt für Justiz einreichen.
Am 15. Februar 2017 ist die Referendumsfrist gegen das Gesetz zur Aufarbeitung der für­sorgerischen Zwangs­massnahmen vor 1981 abgelaufen. Das Gesetz zur Aufarbeitung der für­sorgerischen Zwangs­massnahmen vor 1981 tritt am 1. April 2017 in Kraft. 1150 Gesuche von Opfern solcher Zwangs­massnahmen wurden bis dahin eingereicht.

Medienmitteilung des Bundesrats, 15. Februar 2017

Mehr Infos zum Solidaritätsbeitrag auf der Seite des Bundesamts für Justiz

Weiter zu den kantonalen Anlaufstellen

Am 3. April 2018 haben bereits über 8000 Betroffene ein Gesuch für einen Solidaritäts­beitrag eingereicht. Die Betroffenen erfahren damit eine offizielle Anerkennung für das erlittene Unrecht. Für die Initiant­innen und Initianten ist das Ende der Gesuchfrist der Anfang der Aufarbeitung. Die Guido Fluri Stiftung unterstützt auch weiterhin die Opfer­gruppen und engagiert sich mit dem Erzählbistro in einem Nachfolge­projekt, das den Austausch unter den Betroffenen fördern soll.

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